Die Volatilität an den Aktienmärkten hat wieder zugenommen. Die niedrige Marktbreite bedeutet, dass nur ein Teil der kotierten Aktien steigende Trends aufweist. Es fehlt eine Erzählung, was ausser Rentabilität einzelner Unternehmen für die Anlageklasse Aktien sprechen würde. Gross thematisiert sind amerikanische Staatsanleihen. Das und die Volatilität führen zur Inflation eines Wortes: Vorsicht.
Der Obligationenmarkt ist der Ort, wo man als Wohltäter unterwegs ist. Man finanziert das Glück der Schuldner. Wenn es gut geht, verdienen sie mehr als die jährlich zu leistenden Zinsen und können ihre Schulden fristgerecht tilgen. Wenn sie Pech haben, machen sie pleite und die Anleger haben den Schaden.
Zinsen abzüglich Steuern minus Inflation, so genannte Realzinsen, waren selten positiv. Die Kaufkraft des ausgeliehenen Geldes war bei Rückzahlung selbst in Jahren niedriger Inflation mit einem Kaufkraftverlust gegenüber dem Zeitpunkt der Ausleihung verbunden. Es ist mir ein Rätsel, wie diese Anlageklasse als risikolos bezeichnet werden kann.
Dieses Jahr waren Obligationen in US-Treasuries ein Desaster. Verluste von 23% auf zehn Jahre Restlaufzeit und gar von 27% auf eine Restlaufzeit von 15 bis 25 Jahre waren zu verzeichnen, berichtet Peter E. Huber in seinem Beitrag vom 3. Oktober in «The Market».
Das erinnert mich an 1994. Das Jahr schloss mit ähnlichen Verlusten für US-Obligationen ab. Der S&P 500 endete mit einem Gewinn von 0.85% – sozusagen die berühmte schwarze Null. Dazu kamen noch Dividendenausschüttungen. Die Volatilität zerrte allerdings an den Nerven. Zwischendurch lag der S&P 500 6.5% unter Vorjahresschluss und gar 9.7% unter Jahreshöchst.
An den Januar 1995 kann ich mich sehr gut erinnern. Man sagte, der US-Markt sei zu teuer. Zu teuer gemessen am Kursgewinnverhältnis, am Preis / Free Cashflow, am Preis zu Buchwert. Nach dem Verlust in der «risikofreien» Anlageklasse Staatsanleihen seien die institutionellen Anleger risikoavers. Sie würden kaum wagen, die Allokation in den teuren US-Aktien zu erhöhen. Die privaten Haushalte seien heillos überschuldet. Freie Mittel für den Kauf von Aktien hätten sie ohnehin nicht. Man riet zur Vorsicht.
Ende Januar 1995 schloss der S&P 500 auf 470.42 Punkten. Risikoscheue Institutionelle und überschuldete Privathaushalte trieben ihn bis Ende März 2000 immer schön brav innerhalb des 40-Monate-Bollinger-Bandes bis Ende März auf 1'553.10 Punkte nach oben. Die technischen Voraussetzungen für eine Hausse in New York waren allerdings hervorragend.
Sie wären von jedem Anfänger auf Anhieb erkannt worden, wie das folgende Bild zeigt, das mit dem 31. Dezember 1994 beginnt und mit dem 31. März 2000 aufhört:
Das ist heute anders. Die Marktbreite ist niedrig, Small- und Midcaps laufen schlecht, bevorzugt werden eindeutig Liquidität, breite Abdeckung durch Analysten und Qualität der Unternehmen. Es fehlt ein Narrativ, das heterogene Meinungen und Erwartungen ausbügelt, wie zwischen 1995 und 2000. Ich erwarte keinen Bärenmarkt, aber auf Ebene der breiten Indizes eher Seitwärtsbewegungen.
Zu hohe Schulden, was immer das Mass zur Ermittlung sei, wann hoch zu hoch ist, ein Erdbeben in Kalifornien, das einigen Schätzungen zufolge den Versicherungen hundert Milliarden Dollar kosten könnte, ein Nuklearunfall, verantwortungslose Populisten an der Macht – sie alle und vieles mehr könnte zu Desastern führen. Man wird immer Gründe finden können, warum es zu Erschütterungen an der Börse kommen kann. Zu Vorsicht wird geraten.
Es gibt nur einen Weg zur Vorsicht
Wie ist man an der Börse vorsichtig? Die Antwort ist einfach: Vorsicht lässt man walten, wenn man die Anlagestrategie definiert. Man wägt Einkommen und Liquiditätsbedarf ab, macht beim Einkommen eher Abstriche und legt beim Liquiditätsbedarf für unerwartete Ereignisse eher etwas zu, rechnet Reserven für unerwartete Ausgaben grosszügig aus und überprüft die so definierte Allokation von Zeit zu Zeit anhand einer einzigen Messlatte: Der Ereignisse, die das eigene Leben prägen.
Hat sich etwas verändert in der Einnahmen- / Ausgabengleichung, in der eigenen Risikofähigkeit, in der eignen Gesundheit, in der Gesundheit der eigenen Familie, in der Lebenserwartung? Wenn ja, muss man die Strategie anpassen. Wenn nein, lässt man sie stehen. Wenn man andere Parameter anwendet, wie zum Beispiel Ende Januar 1995, als mir ein hochrangiger Vertreter einer höchst angesehenen Privatbank anlässlich eines Besuches vortrug, warum die Aktienkurse nicht steigen können, kann man unkorrigierbar danebenliegen.
Die Strategie muss bleiben. Die Taktik muss beweglich sein. Sie lässt viel Spielraum übrig für Unter- und Übergewichtungen. Am besten nutzt man dafür die Sektoren und Industrien. Sie beeinflussen aufgrund der engen Vernetzung der Geldpolitik in den hochentwickelten Industrieländern den Lauf der nach Ländern organisierten Märkte viel mehr als die Politik. Gerade in Zeiten starker Divergenzen ist die Allokation über die Sektoren jener via Länder weit überlegen. Das ist nicht nur meine Erkenntnis, sondern auch jene vieler Wissenschaftler, die entsprechende Untersuchungen vorgenommen haben.
Alfons Cortés, Senior Partner